Update vom 16.09.2022: In einer Stellungnahme hat die Länderkammer des Bundesrates „schwerwiegende grundrechtliche Bedenken“ gegen die EU-Pläne zur Chatkontrolle geäußert. Auch wenn die Ziele der EU-Kommission generell unterstützt werden, sieht der Bundesrat durch die geplante Technologie eine erhebliche Gefahr für die freie Meinungsäußerung sowie die Privatsphäre und forderte die Regierung auf, sich auf EU-Ebene für den Erhalt der Vertraulichkeit von privater Kommunikation einzusetzen.
Bekannt war das Vorhaben schon länger, nun hat die EU-Kommission offiziell ihre Pläne für das Chatkontrolle-Gesetz vorgestellt: Im Kampf gegen die Verbreitung von Kinderpornografie und zum Schutz von Kindern vor „Grooming“ soll nach ihrem Willen künftig die digitale Kommunikation, ob Mails, Chats oder über Messenger wie WhatsApp und Signal auf entsprechende Inhalte hin geprüft werden. Im Grunde bedeutete dies eine verdachtsunabhängige, anlasslose Massenüberwachung aller und das Ende des „digitalen Briefgeheimnisses„. Wozu bräuchte es dann noch die DSGVO oder Datenschutz?
Ende der Privatsphäre unter dem Deckmantel des Kinderschutzes?
Im Zuge der Pandemie hat die Verbreitung von Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern im Netz stark zugenommen. Allein rund 40.000 solcher Missbrauchsdarstellungen wurden 2021 in der EU erfasst. Die Dunkelziffer dürfte weit darüber hinausgehen. Die EU-Kommission möchte den Schutz von Kindern deshalb stärken – sicherlich ein hehres Ziel. Doch das nun vorgestellte Chatkontrolle-Gesetz gleicht einem Monstrum, das im Grunde jeden Bürger unter Generalverdacht stellt und seine Grundrechte stak einschränkt.
Unternehmen sollen demnach dazu verpflichtet werden, mithilfe von KI-Software selbst private Chats und andere digitale Kommunikation vollautomatisch auslesen zu lassen – wofür im Übrigen oftmals auch eine Herabsetzung der derzeitigen Verschlüsselungsstandards erforderlich wäre. Erkennt das Programm hierbei bestimmte Inhalte, die auf die Verbreitung von Kinderpornografie – oder „Grooming“ – hindeuten, soll dies an Strafverfolgungsbehörden weitergeleitet werden. Diese sichten dann die betroffenen Inhalte und prüfen, ob sich der technisch erfasste Anfangsverdacht bestätigt.
Das Recht auf Privatsphäre wäre damit in der digitalen Kommunikation via WhatsApp & Co. letztlich geringer als in der analogen per Brief u. a. Schließlich darf hier niemand einfach so jeden Ihrer Briefe oder jedes an Sie adressierte Paket öffnen und schauen, was drin ist/steht (außer im Strafvollzug vielleicht).
Ein bisschen Generalverdacht für alle: Vieles am Chatkontrolle-Gesetz bleibt unklar
Die Rahmenbedingungen für den Gesetzentwurf sind derzeit noch sehr schwammig formuliert – wohl auch nicht ganz ungewollt – z. B.:
„Unternehmen, die eine Anordnung zur Aufdeckung von Inhalten erhalten haben, dürfen hierfür ausschließlich Indikatoren für sexuellen Kindesmissbrauch nutzen, die vom EU-Zentrum überprüft und bereitgestellt wurden. Die Erkennungstechnologien dürfen nur für die Aufdeckung von sexuellem Kindesmissbrauch eingesetzt werden. Die Anbieter müssen Technologien einsetzen, die nach dem Stand der Technik in der Branche am wenigsten in die Privatsphäre eingreifen und dafür sorgen, dass die Fehlerquote falsch positiver Ergebnisse so gering wie möglich ist.“ (Pressemitteilung der EU-Kommission vom 11.05.2022)
- Ein entsprechendes EU-Zentrum gibt es derzeit noch nicht. Es soll Europol unterstellt sein. Genaue Befugnisse und Gestaltung dieses Zentrums: unklar.
- Die Indikatoren können theoretisch auch beliebig unbefugt von Unternehmen erweitert, die Software so auch missbräuchlich verwendet werden. Wie ein solcher Missbrauch zu verhindern wäre – den gab es schließlich auch in der Vergangenheit schon öfter selbst innerhalb der Strafermittlungsbehörden: unklar.
- Entsprechende Erkennungstechnologien sind bereits verfügbar und werden weiterentwickelt. Doch wer wie sicherstellen soll, dass diese auch tatsächlich nur für die Aufdeckung von Kindesmissbrauch genutzt werden: unklar.
- Ein genereller Eingriff in die Privatsphäre eines jeden Bürgers ist mit dem Chatkontrolle-Gesetz schon vorausgesetzt. Wer bewerten soll, welche Maßnahmen „am wenigsten“ hierin eingreifen: unklar. Zudem scheinen hier je nach „Branche“ ggf. unterschiedliche Maßstäbe möglich sein.
- Falsch positive Ergebnisse sind solche, bei denen ein vermeintlicher Verstoß zur Sichtung weitergeleitet werden, sich hiernach aber herausstellt, dass eine Zuwiderhandlung nicht vorliegt. Eine Fehlerquote bezieht das Chatkontrolle-Gesetz per se mit ein. Wann eine solche „so gering wie möglich“ zu definieren ist: unklar.
- Wie außerdem ausgeschlossen werden soll, dass das besondere Recht auf Vertraulichkeit in einzelnen Berufsgruppen (Journalisten, Anwälte etc.) oder zum Schutz von Opfern oder Berufsgeheimnissen nicht aufgeweicht werden: unklar.
Die Kritik an dem Chatkontrolle-Gesetz ist nicht nur deshalb so groß, weil es anlasslos in die Privatsphäre eines jeden EU-Bürgers eingreift und damit nicht zuletzt den Bemühungen um einen verbesserten Datenschutz innerhalb der EU durch die Datenschutz-Grundverordnung in weiten Teilen entgegenstünde. Selbst im Zuge der Datenschutzreformen errichtete nationale Gesetze wie das erst im Dezember in Kraft getretene Telekommunikations-Telemedien-Datenschutzgesetz (TTDSG) würden ad absurdum geführt-
Auch die Sinnhaftigkeit ist in Zweifel zu ziehen. Digitale Kommunikation über Messenger & Co. zählt nämlich nicht zu den relevanten Verbreitungswegen von Missbrauchsdarstellungen. Die Maßnahmen zum umfassenden Zugriff auf personenbezogene Daten und der Eingriff in die Privatsphäre aller EU-Bürger erscheinen damit unverhältnismäßig.
Bleibt zu hoffen, dass Europaparlament und Europarat dem Chatkontrolle-Gesetz noch rechtzeitig den Riegel vorschiebt – diese müssen über den Vorschlag zunächst noch abstimmen. Anderenfalls wird wohl der EuGH über die verdachtsunabhängige, digitale Massenkontrolle zu entscheiden haben.
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